Eine Reform ohne Reform?

20. Mai 2023

Die notwendige Familienrechtsreform zieht sich hin. Die Versuchung, wieder zu verschieben und auszusitzen ist groß. FSI lädt zum Gedankenexperiment ein: Wie wäre es denn ohne Reform?

Bereits unter der vorherigen Regierung hatte eine Expertengruppe grundlegende Eckpunkte in Form eines Thesenpapiers ausgearbeitet hatte. Dennoch stellte man Ende 2020 plötzlich fest, dass nach acht Jahren Regierungsverantwortung die Zeit leider doch nicht mehr ausreicht. Und es besteht die reelle Gefahr, dass es der aktuellen Regierung ähnlich gehen könnte, denn Familienrecht ist ein für Politiker hochgradig unattraktives Thema: langfristig, komplex und stark emotionalisiert.

Also alles so lassen, wie es ist? Oder nur ein kleines Reförmchen? Ginge das nicht auch?

Was in der Politik oft vergessen wird: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Und jede Entscheidung hat Kosten. FSI stellt die Kosten von "keine Entscheidung" in ihrer Tragweite im Folgenden dar.

Gegenwärtige Situation im Familienrecht

FSI hat hier hergleitet, dass das Unterhaltsrecht gleich mehrfach gegen das Grundgesetz verstößt. Darüber hinaus wird kein anderes Land häufiger vom Europäischen Gerichtshof für Menschrechte (EGMR) im Bereich Familienrecht verurteilt als Deutschland (Übersicht).

Kernproblem des deutschen Familienrechts ist die Hierarchisierung der getrennten Eltern in Betreuungs- und Umgangselternteil. Solange die Eltern jedoch keine gleichen Rechte und Pflichten haben, werden Sie vom Rechtssystem zu Gegnern gemacht. Statt einer gemeinsamen Elternschaft, die das Kind in den Mittelpunkt stellt, fördert der aktuelle Rechtsrahmen Konflikte.

Umgangsrecht
Vom Umgangsrecht ist bekannt, dass es im Streitfall oftmals nicht durchsetzbar ist: Einseitige Wegzüge mit dem Kind werden auch bei gemeinsamem Sorgerecht nicht sanktioniert. Prozesstaktische Falschbeschuldigen werden nicht geahndet, selbst wenn sie zweifelsfrei erwiesen sind. Beschlüsse werden missachtet oder unterlaufen, weil Familiengerichte sie nicht durchsetzen und die möglichen Ordnungsmittel nicht anwenden. Insgesamt sind Professionen und Familienrichter oftmals nicht ausreichend ausgebildet, um auf eskalierendes Verhalten sachgerecht und rechtzeitig zu reagieren.

In der Folge kommt es dann entweder zu Umgangsausschlüssen oder faktischer Präjudizierung durch Zeitablauf, in beiden Fällen für das Kind jedoch zum Verlust eines Elternteils. Gerade wenn ein Elternteil sich stark eskalierend verhält, kommt der Staat seinem Schutzauftrag nach Art. 6 (2) GG oftmals nicht nach. Die dargestellte Problematik ist langjährig bekannt und Grund für die häufigen Klagen und Urteile gegen die Bundesrepublik vor dem EGMR.

Unterhaltsrecht
Im Unterhaltsrecht herrscht bis heute das Prinzip "The-Winner-takes-it-all". Beistandschaften und Familiengerichte fahnden nur noch nach dem unterhaltspflichtigen Elternteil – selbst wenn dessen Betreuungsanteil 49% beträgt. Es werden weder eigene Betreuungsleistung, noch das Einkommen des anderen Elternteils, noch das Existenzminimum des Kindes berücksichtigt. Wer die Meldeadresse hat, hat gewonnen, denn der mitbetreuende Elternteil ist damit statistisch, rechtlich und gesellschaftlich unsichtbar.

Prekäre Lebensverhältnisse
Inzwischen kann der Kindesunterhalt in über der Hälfte der Fälle nicht mehr vollständig bezahlt werden, da sich die Entwicklung der Unterhaltssätze völlig von der Reallohnentwicklung entkoppelt hat (siehe Beitrag von FSI hier). Obwohl die Düsseldorfer Tabelle keine Gesetzeskraft hat und abweichende Regelungen explizit erlaubt, wird Mitbetreuung in der Familienrechtspraxis mit dem Argument der "Rechtsvereinfachung" wie Alleinerziehung behandelt, die Düsseldorfer Tabelle als Verordnung somit über das Grundgesetz gestellt.

Im Gegensatz zum Umgangsrecht ist das Unterhaltsrecht jedoch mit massiven staatlichen Durchgriffsrechten versehen. In der Konsequenz haben Unterhaltspflichtige ein hohes Verschuldungs- und Verarmungsrisiko, das in Politik und Gesellschaft jedoch nicht wahrgenommen wird.

Ungleichheit vor dem Gesetz
Wer sich in seinen Rechten verletzt sieht, dem steht allgemein der Klageweg mit Klärung des Sachverhalts vor Gericht offen. Wie dargestellt erzeugen die aktuellen familienrechtlichen Regelungen ein massives rechtliches und finanzielles Ungleichgewicht, das zu einem seit Jahren steigenden Prozessaufkommen führt.

Nun ist das Familienrecht in nahezu allen Rechtschutzversicherungen ausgeschlossen. Ein mitbetreuender Elternteil muss somit Kindesunterhalt, Betreuungskosten des Kindes im eigenen Haushalt und Verfahrenskosten tragen, während der andere – rechtlich bereits bessergestellte – Elternteil seine Kosten zumindest teilweise den Unterhaltszahlungen entnehmen kann.

Verbleibt nur das Existenzminimum, so besteht die Möglichkeit, staatliche Verfahrenskostenhilfe (VKH) zu beantragen. Diese ist jedoch nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung unbedingt erforderlich erscheint und hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Anträge auf VKH bei Familien- und Bundesgerichten scheitern in der Praxis regelmäßig an der subjektiven Interpretation dieser beiden Punkte durch die zuständigen Richter. Verfahren werden dann bereits durch die Versagung der VKH entschieden.

Das Unterhaltsrecht führt zu einer entgrenzten finanziellen Belastung von Elternteilen mit geringem Einkommen. Gleichzeitig macht es genau diese Verarmung unmöglich, sich rechtlich gegen die Entgrenzung zu wehren – ein kafkaesker Zirkelschluss. Neben der strukturellen rechtlichen Diskriminierung wird für den Unterhaltspflichtigen so auch noch das Grundrecht auf rechtliches Gehör ausgehebelt.

Folgen für die Gesellschaft

Menschen haben ein intuitives Unrechtsempfinden und sind oftmals schockiert, wenn sie im Rahmen einer Trennung erstmals mit dem deutschen Familienrecht in Kontakt kommen – insbesondere wenn sie bis dahin in einer gleichberechtigten Partnerschaft gelebt haben. Die erste Reaktion ist vielfach ein ungläubiges Nicht-Wahrhaben-Wollen. Es folgt dann oftmals eine Phase des Kampfes, weil das Familienrecht in seiner hierarchisierenden Struktur nur Sieger und Besiegte kennt.

Am Ende des Kampfes finden sich die "besiegten Elternteile" in der Regel mit reduziertem Kontakt zum Kind und hohen Unterhaltsforderungen wieder. Diese gesetzlich forcierte Dynamik führt zu hohen gesellschaftlichen Kosten.

Ein Gesetz, das die gesellschaftlichen Realitäten nicht mehr abbildet, in Teilen gegen die Verfassung und Menschenrechte verstößt sowie massive sachfremde Fehlanreize setzt, ist dysfunktional. Die Beibehaltung dysfunktionaler rechtlicher Regelung bewirkt eine Erosion der rechtsstaatlichen Legitimierung. Die Menschen kündigen dem Rechtsstaat innerlich, weil dieser keine zeitgemäßen und an der Lebenswirklichkeit von Eltern und Kindern ausgerichteten Lösungen anbietet.

Die beschriebenen Dynamiken haben in ihrer Summe ganz konkrete gesellschaftliche Auswirkungen:

Daneben stehen die individuellen Auswirkungen auf die betroffenen Eltern selbst. Aufgrund ihrer Erlebnisse mit der Familiengerichtsbarkeit empfinden viele ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Dies und der damit verbundene Verlust der Selbstwirksamkeit sind Hauptgründe für das Entstehen von Depressionen. Gerade besonders strittige Verfahren und ein erzwungener Kontaktabbruch zum Kind sind für die Beteiligten oftmals traumatisierende Erfahrungen mit psychischen Langzeitfolgen. Die Auswirkungen:

  • Rückzug / Vereinsamung
  • Depressionen
  • psychosomatische Erkrankungen
  • Traumatisierung (insbesondere bei Kontaktabbruch zum Kind)
  • post-traumatische Belastungsstörungen (PTBS)
  • Minderung der beruflichen Leistungsfähigkeit bis hin zur Erwerbsunfähigkeit
  • Suizide

Es wird deutlich: Das aktuelle Familienrecht verursacht aufgrund seiner fehlenden Passung zu den gesellschaftlichen Realitäten immense volkswirtschaftliche Kosten und hohes Leid bei den Betroffenen. Bei einem Ausbleiben einer Reform werden sich diese Effekte absehbar weiter verstärken. Auch die Folgen der damit verbundenen rechtsstaatlichen Delegitimierung ("innere Kündigung der Bürger") sollten nicht unterschätzt werden.

Ausweichverhalten der Betroffenen

Das aktuelle Unterhaltsrecht bringt Menschen mit geringen und mittleren Einkommen in finanzielle Notlagen. Wenn Kinder noch mitbetreut werden – wie es politisch und gesellschaftliche ja eigentlich gewünscht ist – werden diese Notlagen existenzbedrohend. Hinzu kommt: Selbst wenn sich die Eltern über die Betreuung einig sind, so schließt die gesetzliche Erwerbsobliegenheit von 48 Arbeitsstunden pro Woche eine Mitbetreuung faktisch aus. Was also tun?

Fehlanreiz 1: Rückzug aus der Elternrolle
Im aktuellen Unterhaltsrechts stellt der vollständige Rückzug aus der Betreuung die ökonomisch sinnvollste Option dar, da dann neben den Unterhaltszahlungen keine weiteren Kosten anfallen. Dies entspricht dem Rückfall in das Rollenmodell der 1950er Jahre. Der gesellschaftliche Wunsch nach "Care-Arbeit fair teilen" kann in diesem Rechtsrahmen nicht erreicht werden. Für die Kinder bedeutet es in der Regel den Verlust eines Elternteils mit entsprechenden psychischen und gesellschaftlichen Langzeitfolgen.

Fehlanreiz 2: Flucht in den Sozialleistungsbezug
Das sächliche Existenzminimum ist insbesondere bei Mitbetreuung vielfach höher, als der der Selbstbehalt der Düsseldorfer Tabelle. FSI hat dies anhand eines konkreten Rechenbeispiels dargestellt: Im Fall von zwei Kindern und 40% Mitbetreuung beträgt das Existenzminimum nach SGB II rund 1.856 €, der Selbstbehalt jedoch nur 1.370 €. Um das Existenzminimum bei gleichzeitiger Erfüllung der Unterhaltspflicht zu erreichen, wäre eine Nettoeinkommen von 2.762 € notwendig – dies liegt rund 500 € über dem mittleren Nettoeinkommen des Jahres 2022. Die Folgen beim Ausbleiben einer Reform des Unterhaltsrechts sind somit zwingend logisch absehbar:

  • Unterhaltspflichtige werden zunehmenden in den Bezug von Bürgergeld getrieben.
  • Selbst für mittlere Einkommen besteht kein Erwerbsanreiz mehr, da Betroffene durch Aufstockung nach SGB II bessergestellt sind.
  • Auch für Unterhaltsempfänger wird der Erwerbsanreiz immer geringer, da es durch Kindesunterhalt und Kindergeld zunehmend zu einer Alimentation mit dem Charakter eines Zweiteinkommens kommt.
  • Bei Aufstockung nach SGB II kommen die Unterhaltszahlungen aus dem Sozialbudget. Da der Unterhaltssatz weitestgehend unabhängig vom Einkommen des Empfängers ist, kommt es durch das Durchreichen des Unterhalts vermehrt zum Transfer von Sozialleistungen an Besserverdienende.
  • Ohne Erwerbsanreiz droht sowohl Unterhaltspflichtigen als auch -empfängern spätere Altersarmut – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Konsequenzen des Ausweichverhaltens
Das aktuelle Unterhaltsrecht treibt mitbetreuende Elternteile entweder in den Rückzug aus der Betreuungsverantwortung oder in den Bezug von Sozialleistungen. Beide Fehlanreize werden sich im aktuellen System absehbar mit der Erhöhung der Regelsätze (und dem damit verbundenen Anstieg der Unterhaltssätze) weiter verstärken. Altersarmut ist eine logische Langzeitfolge.

Für Unterhaltspflichtige lohnt sich Erwerbsarbeit zunehmend nicht mehr, bei zwei und mehr Kindern sind selbst die Mindestunterhalte für weite Einkommensgruppen objektiv nicht mehr leistbar. Für Unterhaltsempfänger bestehen aufgrund der Alimentation umgekehrt immer weniger Erwerbsanreize. Dies führt zu langen Erwerbspausen und damit zwangsläufig zu einem geringeren Lebenseinkommen. Die verschiedenen "Gaps" werden so nicht geschlossen, sondern eher vergrößert.

Transgenerationale Wirkung

In den letzten Abschnitten wurden die Auswirkungen des aktuellen Familienrechts auf Trennungsfamilien und die Gesellschaft beschrieben. Familienpolitik hat jedoch – ähnlich wie Bildungspolitik – stets auch eine generationsübergreifende Wirkung.

Ein Kind braucht die Beziehung zu beiden Eltern, weil die Eltern sowohl Schutzpersonen als auch Rollenmodelle für die Persönlichkeitsentwicklung sind. Die erlebte Beziehung zu den beiden Elternteilen und der Eltern untereinander dient – ob gut oder schlecht – stets als prägendes Muster für das eigene Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter. Auch werden im ersten Lebensjahrzehnt Selbstwirksamkeitserwartung, Resilienzfähigkeit und Coping-Strategien als entscheidende Determinanten der psychischen Stabilität ausgebildet.

Im derzeitgen Recht steht Geld jedoch über Beziehung: Im Zweifelsfall ist der Erhalt der Unterhaltszahlungen stärker geschützt als der Beziehungserhalt zu beiden Eltern. Professionen, Familiengerichte und auch die Politik vergessen dabei jedoch, dass Geld Beziehung nicht ersetzen kann. Dabei ist gerade die Beziehung zu beiden Eltern ein Menschenrecht des Kindes (Art. 9 UN-KRKArt. 8 EMRK und Art. 24 EU-Grundrechtecharta).

Eskalierendes und ausagierendes Verhalten des "Betreuungselternteils" werden in der deutschen Familienrechtspraxis jedoch nicht ausreichend begrenzt und sanktioniert. Im Gegenteil, viele Familiengerichte und gerichtsnahe Professionen sehen ihre Aufgabe eher in der palliativen Begleitung von Entfremdungsprozessen als in deren sachgerechter Prävention – was auch der Grund für die wiederholten Verurteilung der Bundesrepublik durch den EGMR in diesem Bereich ist.

Selbstverständlich müssen Kinder geschützt werden, wenn nachweislich Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung vorliegen. Alleinerziehung stellt jedoch immer ein entwicklungspsychologisches Notprogramm dar, wenn ein Elternteil verstirbt oder die Elternrolle nicht übernehmen kann. Mit Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes ist es keine anzustrebende Familienform. Vor diesem Hintergrund ist auch der von manchen Verbänden genutzte Terminus der "gewollten Alleinerziehung" lediglich ein Euphemismus für entfremdendes Verhalten, das Kinder zu sozialen Halbwaisen macht. Erlernte Beziehungsmuster und -strategien werden von Generation zu Generation reproduziert, aus entfremdeten Kindern werden oftmals entfremdende Eltern.

Fazit

Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Und jede Entscheidung hat Kosten.

Ein erneutes verschieben der notwendigen Reform im Familienrecht mag politisch attraktiv erscheinen. Dies ist jedoch mit immensen gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Kosten verbunden, die nur deshalb vernachlässigbar erscheinen, weil man sich offensichtlich daran gewöhnt hat. Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, dass Deutschland (zusammen mit Österreich und der Schweiz) absolutes Schlusslicht bei einer gleichberechtigten Aufteilung der Elternverantwortung ist. Von allen Industrieländern verlieren nur in Japan noch mehr Kinder einen Elternteil im Fall der Trennung. Die massiven Fehlanreize im Unterhaltsrecht werden jährlich mit jeder Erhöhung der Regelsätze größer.

Die gemeinsame Betreuung durch beide Eltern auch nach einer Trennung muss der Regelfall werden und nicht die Ausnahme sein. Dabei muss die individuelle Betreuungsaufteilung nicht paritätisch sein, aber beide Eltern müssen als Rollenmodelle für das Kind verfügbar sein. Dazu muss der Rechtsrahmen individuelle Betreuungslösung der Eltern abbilden – derzeit ist es umgekehrt.

Für den Ausweg aus dieser Dynamik muss ein Paradigmenwechsel erfolgen, weg von "einer betreut, einer bezahlt" hin zu "beide betreuen, beide bezahlen". Man wird eine gleichberechtigte Aufteilung der Betreuungsverantwortung nur bei gleichzeitig gleichberechtigter Aufteilung der Erwerbsverantwortung erreichen. Die geschilderten Fehlanreize fielen weg und die diversen "Geschlechter-Gaps" würden kleiner werden. Auch würde eine solche Regelung dem Gedanken des Grundgesetzes (Art. 3 und 6 GG) mehr entsprechen.

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