FSI zeigt anhand konkreter Zahlen, wie das Unterhaltsrecht eine faire Aufteilung von Sorgearbeit verhindert und Unterhaltspflichtige ins Bürgergeld treibt. Wollen wir das so?
FSI hat bereits in der Vergangenheit mehrfach auf die unterschiedliche Behandlung des Existenzminimums in Unterhalts- und Sozialrecht aufmerksam gemacht. Auch der Leitfaden zur Existenzsicherung bei Unterhaltspflicht hat vielfach positive Rückmeldungen erhalten. Dennoch sind die zugrunde liegenden rechtlichen Regelungen oftmals komplex und schwer fassbar. Wir möchten die Situation daher an einem konkreten Fallbeispiel anschaulich machen und die gesellschaftlichen Folgen aufzeigen.
Die im Folgenden beschriebene Problematik ist geschlechtsunabhängig. Sie hat Ihre Ursache in der rechtlichen Hierarchisierung der Eltern in Trennungsfamilien und entsteht genauso auch bei umgekehrter Rollenverteilung oder gleichgeschlechtlichen Elternpaaren.
Ausgangssituation
Paul und Paula haben zwei Kinder, die 6 und 10 Jahre alt sind. Sie betreuen beide Kinder nach einer Trennung einvernehmlich im Verhältnis 60:40. Pro Monat sind dies durchschnittlich 18 Tage bei Paula und 12 Tage bei Paul. Paul verdient monatlich 2.040 € netto.
Der durchschnittliche Nettoverdienst betrug im Jahr 2022 laut Einkommensstatistik 2.265 € (Quelle). Das Netto von Paul entspricht etwa 90% hiervon. Das Fallbeispiel repräsentiert also eine Situation aus der Mitte der Gesellschaft.
Paul und Paula wollen für ihr Betreuungsmodell eine Unterhaltsregelung finden. Sie wenden sich für eine Beratung vertrauensvoll an das Jugendamt. Dort rät man Paula, eine Beistandschaft zu bestellen, die werde dann alles regeln...
Sicht der Beistandschaft im Jugendamt
Die Beiständin betrachtet den Fall aus Sicht des Unterhaltsrechts. Ihr Ziel ist die Maximierung des Unterhalts für die Kinder.
Laut Düsseldorfer Tabelle müsste Paul monatlich 403 € pro Kind, insgesamt also 806 €, an Paula zahlen. Damit würde jedoch sein Selbstbehalt von 1.370 € unterschritten werden. Also fordert die Beiständin nur den Zahlbetrag des Mindestunterhalts in Höhe von 377 € ein, also 754 € für beide Kinder.
Dies reicht leider auch nicht, um Pauls Selbstbehalt zu wahren. Um einen Mangelfall zu vermeiden, setzt die Beiständin daher ein fiktives Einkommen von 84 € an. Diesen Betrag gibt es gar nicht (daher fiktiv), aber Paul könnte ihn ja durch einen Nebenjob hinzuverdienen, um damit dann den Mindestunterhalt bezahlen.
Die Betreuungsleistung von Paul berücksichtigt sie nicht, da sie hierfür keine Rechtsgrundlage sieht.
Position | Betrag | |
---|---|---|
Netto-Einkommen | 2.040 € | |
Fiktives Einkommen | + 84 € | |
Unterhaltszahlung | – 754 € | |
Selbstbehalt | 1.370 € |
Der Selbstbehalt ist ein Pauschalbetrag für Pauls Existenzminimum. Hiermit müssen sowohl Lebenshaltungs- als auch Unterkunftskosten abgedeckt werden. Die Bedarfe der Kinder in Pauls Haushalt werden nicht berücksichtigt und sind ebenfalls aus dem Selbstbehalt zu bestreiten. Völlig abwegig ist die häufig zu hörende Argumentation, er solle doch seine Hälfte des Kindergeldes aufwenden, da ihn dieses Geld gar nicht erreicht. Die Unterhaltszahlungen machen 37% von Pauls Netto aus.
Paul steht vor dem unlösbaren Dilemma: Der regionale Sozialdienst des Jugendamtes hält im Sinne des Kindeswohls mindestens ein Kinderzimmer für notwendig, die Beistandschaft im gleichen Hause will dies jedoch finanziell nicht berücksichtigen. Auch kann er gar keinen Nebenjob annehmen, da er sich ja zu 40% um die Kinder kümmert. Er steht kurz davor, sich aus finanziellen Gründen vollständig aus der Betreuung seiner Kinder zurückziehen zu müssen.
Bei einer kompetenten Sozialberatung empfiehlt man ihm, sich an das örtliche Jobcenter zu wenden und Aufstockung nach SGB II zu beantragen.
Sicht des Sachbearbeiters im Jobcenter
Der Sachbearbeiter betrachtet den Fall aus Sicht des Sozialrechts. Sein Ziel ist die Sicherung des Existenzminimums aller Haushaltsmitglieder.
Laut Sozialrecht steht Paul selbst ein Regelbedarf von 502 € zu. Die Kosten der Unterkunft werden in Höhe von 596 € übernommen. Hinzu kommt ein Freibetrag von 100 € und ein zeitanteiliger Alleinerziehendenmehrbedarf von 72 €. Das sich so ergebende Existenzminimum ist mit 1.270 € zwar um 100 € niedriger als der Selbstbehalt im Unterhaltsrecht, allerdings werden nun noch die Kinder berücksichtigt.
Für die Zeit, in der die Kinder bei Paul sind, stellt der Sachbearbeiter eine temporäre Bedarfsgemeinschaft fest. Für die Kinder erhält Paul den zeitanteiligen Regelsatz in Höhe von 278 €. Weiter übernimmt das Jobcenter die Unterkunftskosten der Kinder in Höhe von 308 € (zwei kleine Zimmer).
Die titulierten Unterhaltszahlungen kann Paul von seinem Einkommen absetzen. Anders gesagt: Den Unterhalt von 754 € übernimmt der Staat, da es eine unabweisbare Ausgabe ist.
Im Bescheid des Jobcenters wird ein monatlicher Bedarf von 2.610 € festgestellt. Zusätzlich zu seinem Einkommen hat Paul also ein Anrecht auf 570 € Aufstockung nach SGB II.
Paul fragt sich, ob er von seiner Vollzeitstelle in einen Minijob wechseln sollte. Sein Einkommen wäre das gleiche, aber er hätte mehr Zeit für die Kinder und ehrenamtliches Engagement...
Position | Betrag | Anmerkung |
---|---|---|
Regelbedarf Elternteil | 502 € | |
Unterkunftskosten Elternteil | + 596 € | nach AV Wohnen Berlin (2023) |
Erwerbstätigenpauschale | + 100 € | § 11b (2) SGB II |
Alleinerziehendenmehrbedarf | + 72 € | zeitanteilig nach § 21 SGB II |
Existenzminimum des Elternteils | 1.270 € | |
Regelbedarf Kinder | + 278 € | temporäre Bedarfsgemeinschaft |
Unterkunftskosten Kinder | + 308 € | temporäre Bedarfsgemeinschaft |
Existenzminimum der Kinder | 586 € | |
Existenzminimum des Haushalts | 1.856 € | |
Absetzbetrag Unterhalt | + 754 € | § 11b (1) Nr. 7 SGB II |
Gesamtbedarf nach SGB II | 2.610 € |
Der Selbstbehalt des Unterhaltsrechts ist etwas höher als das Existenzminimum von Paul alleine. Dies ist darin begründet, dass die Pauschalen bei der Festlegung des Selbstbehalts anders gewählt sind (Details siehe OLG Düsseldorf). Das Existenzminimum der Kinder in seiner Betreuungszeit wird dort jedoch in keiner Weise berücksichtigt.
Im Sozialrecht hingegen werden die Kinder gesehen. Paul bildet mit ihnen eine temporäre Bedarfsgemeinschaft, deren sächliches Existenzminimum in Summe 1.856 € beträgt. Damit verbleiben von Pauls Einkommen maximal 184 € für Unterhaltszahlungen übrig. Da dies nicht ausreicht, schießt das Jobcenter noch die Differenz von 570 € zu, so dass der Mindestunterhalt gezahlt werden kann.
Da wir nun das tatsächliche Existenzminimum von Paul und seinen Kindern kennen, ergibt sich unmittelbar folgende Frage: Wie hoch müsste Pauls Nettoeinkommen sein, damit ihm auch im Unterhaltsrecht der gleiche Betrag verbleibt?
Im ersten Ansatz würde man zu dem ermittelten Existenzminimum (1.856 €) die Mindestunterhalte der Kinder addieren (jeweils 377 €) und kommt so auf 2.609 €.
Bei diesem Einkommen werden nach Düsseldorfer Tabelle (DDT) jedoch höhere Zahlbeträge (pro Kind 428 €, Stufe 3 nach DDT) fällig, so dass Paul nun schon 2.712 € verdienen müsste. Damit rutscht Paul jedoch nochmals eine Tabellenstufe nach oben, so dass wir nach einer weiteren Iteration schließlich auf folgende Beträge kommen.
Position | Betrag | |
---|---|---|
Selbstbehalt | 1.370 € | |
Differenz zum Existenzminimum | + 486 € | |
Unterhaltszahlung | + 906 € | (Stufe 4 der DDT) |
Notwendiges Nettoeinkommen | 2.762 € |
Im Unterhaltsrecht wird nicht berücksichtigt, dass die Kinder im Haushalt des mitbetreuenden Elternteils auch Bedarfe haben. Trotz der bestehenden Möglichkeiten, geschieht in der familienrechtlichen Praxis keine nennenswerte Anpassung der Unterhaltsbeträge an die tatsächliche Betreuungsaufteilung. Eine Rechtsverordnung in Form der Düsseldorfer Tabelle wird somit über das Existenzminimum der Kinder im zweiten Haushalt gestellt. FSI hält die aktuelle Regelung des Unterhalts daher für grundgesetzwidrig.
Zudem werden massive gesellschaftliche Fehlanreize deutlich:
Für breite Einkommensschichten besteht aufgrund der hohen Unterhaltssätze somit gar kein Erwerbsanreiz mehr. Durch derartige gesetzliche Fehlanreize werden Menschen aktiv aus dem Arbeitsmarkt und in den Bezug von Bürgergeld gedrängt. Dieses Problem skaliert mit der Anzahl der Kinder. Kinder werden für immer mehr Eltern zu einem realen Armutsrisiko.
Wir betrachten nun die Situation von Paula. Dabei gehen wir zunächst davon aus, dass Paula ebenfalls erwerbstätig ist, jedoch wegen ihres höheren Betreuungsanteils 20% weniger Einkommen als Paul hat, also 1632 €. Sie erhält die Unterhaltszahlungen von Paul und das Kindergeld für beide Kinder.
Position | Betrag | |
---|---|---|
Netto-Einkommen | 1.632 € | |
Kindesunterhalt | + 754 € | |
Kindergeld | + 500 € | |
Haushaltseinkommen | 2.886 € |
Obwohl Paula 20% weniger als Paul verdient, so hat sie am Ende doch ein um 41% höheres Haushaltseinkommen - bei ähnlicher Betreuungsleistung. Aufgrund der Alimentation besteht auch hier wenig Anreiz, die Erwerbstätigkeit auszuweiten.
Das Einkommen des Unterhaltsberechtigten wird im aktuellen Recht über weite Bereiche nicht berücksichtigt (Prinzip: "Einer betreut, einer zahlt."). Dies hat im Extremfall zur Folge, dass Unterhaltspflichtige den Unterhalt aus der Aufstockung erhalten (siehe Beispiel oben) und an Berechtigte mit hohem Einkommen zahlen müssen. Dies ist der sozialpolitische Worst-Case: Sozialleistungstransfer an Besserverdienende. Im aktuellen Unterhaltsrecht ist dies nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.
Betrachten wir abschließend noch das andere Extrem: Paula ist arbeitslos und muss selbst ALG II beziehen. Für sie gelten dann ähnliche Überlegungen wie für Paul oben. Als Betreuungselternteil mit Meldeadresse der Kinder gilt Paula rechtlich jedoch als "alleinerziehend". Im Gegensatz zu Paul erhält sie daher den vollen Regelsatz für die Kinder und Alleinerziehendenmehrbedarf. Der reduzierte Betreuungsanteil wird bei ihr nicht berücksichtigt.
Position | Betrag | |
---|---|---|
Regelbedarf Elternteil | 502 € | |
Unterkunftskosten Elternteil | + 520 € | |
Alleinerziehendenmehrbedarf | + 181 € | |
Regelbedarf Kinder | + 696 € | |
Unterkunftskosten Kinder | + 308 € | |
Sächliches Existenzminimum | 2.283 € |
Paula lebt mit den Kindern am Existenzminimum. An der bestehenden Armut wird sich aber auch durch noch so hohe Unterhaltszahlungen nichts ändern, da Unterhalt und Kindergeld als Einkommen gelten und somit zunächst vollständig mit dem Bedarf zu verrechnen sind. Gerade Elternteile im ALG II-Bezug haben also von einer Erhöhung des Kindergeldes oder der Unterhaltssätze gar nichts. Sie bleiben arm.
Das obige Fallbeispiel zeigt, dass das aktuelle Unterhaltsrecht eine Reihe von hochgradig destruktiven Fehlanreizen setzt:
Die beschriebenen Fehlanreize können weder familien- noch sozialpolitisch gewünscht sein. Sie führen zu Ausweichverhalten der Betroffenen und einer Erosion der rechtsstaatlichen Legitimierung.
FSI fordert daher:
(Edit 29.05.2023: Die Berechnungen zur Erreichung des Existenzminimum durch Erwerbsarbeit wurden ergänzt.)