Das aktuelle Unterhaltsrecht ist grundgesetzwidrig.

15. April 2023

Die Reform des Familienrechts zieht sich hin. FSI stellt dar, warum das Unterhaltsrecht in seiner jetzigen Form dem Grundgesetz widerspricht und die Reform somit dringend notwendig ist.

Familie und Recht

Das deutsche Unterhaltsrecht ist ein Dörnröschen-Thema: Kompliziert, komplex, langweilig und weit weg. Der Rechtsstaat wird die Dinge schon sinnvoll geregelt haben. Bis nach einer Trennung der Brief vom Jugendamt oder einer Fachanwältin für Familienrecht kommt. Dann wachen die Betroffenen plötzlich auf und reiben sich verwundert die Augen...

Es war einmal - die Ursprünge

Um die Folgen im Heute nachzuvollziehen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Ursprünge. Das Familienrecht wurde in den 1950er-Jahren dem damals noch neuen Grundgesetz angepasst und spiegelt somit das Familienbild der damaligen Zeit. Dieses hatte eine klare Rollenaufteilung: Die Mutter macht den Haushalt und betreut die Kinder, der Vater erwirtschaftet des Familieneinkommen.

Im Fall von Trennung und Scheidung stand die Statussicherung von Mutter und Kind im Zentrum. Leitgedanke war: Wenn die Familie während der Ehe durch das Einkommen des Mannes einen gewissen Lebensstandard hatte, so sollte dieser nach einer Scheidung für Frau und Kind nicht schlechter sein. Diesem Gedanken folgend wurde 1962 die Düsseldorfer Tabelle eingeführt, nach der Kindesunterhalt einkommensabhängig (statussichernd) zu zahlen ist.

Der nacheheliche Unterhalt für die erwachsenen Ehepartner wurde - dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit folgend - mit der Familienrechtsreform 2008 zeitlich begrenzt. Der Regelungen zum Kindesunterhalt sind jedoch weitgehend unverändert geblieben und die Düsseldorfer Tabelle wird seit 1962 fortgeschrieben. Seit einigen Jahren werden die Unterhaltssätze auf Basis des § 1612a BGB sogar automatisch jährlich erhöht.

Vergangenheit trifft Gegenwart

Alles gut geregelt, so könnte man meinen. Und für das Familienmodell der 1950er-Jahre war es das sicherlich auch. Heutige Trennungsfamilien haben jedoch ganz verschiedene, individuelle Betreuungsregelungen, die immer wieder in einen veralteten Rechtsrahmen eingepasst werden müssen. Zudem ist auch die Frauenerwerbsquote erfreulicherweise sehr viel höher als damals. Die kodifizierte finanzielle Abhängigkeit der Frau ("Mutter betreut, Vater bezahlt.") entspricht somit immer weniger dem Rollen- und Selbstverständnis heutiger Eltern.

Sehr viel schlimmere Folgen hatte das frühere Familienmodell jedoch für die Kinder, die nach einer Trennung oftmals den Kontakt zum Vater verloren. Heute weiß man, dass die zweite Elternperson eben nicht nur "Besuchselternteil" ist, sondern Kinder beide Eltern als Schutzpersonen und Rollenmodelle für ihre Persönlichkeitsentwicklung brauchen. Folgerichtig ist das Recht des Kindes auf Beziehung zu beiden Eltern inzwischen auch als Menschrecht anerkannt (Art. 9 UN-KRK, Art. 8 EMRK und Art. 24 EU-Grundrechtecharta).

Stellen wir uns nun vor, die inzwischen 70 Jahre alten Regelungen zum Kindestunterhalt würden heute vom Bundestag verabschiedet. Sie würden einer Prüfung durch das Bundessverfassungsgericht sehr wahrscheinlich nicht standhalten. Aus Sicht von FSI bestehen vor allem in folgenden vier Bereichen Grundrechtsverstöße.

Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 GG)

Die gesellschaftliche Wahrnehmung fokussiert sich auf die Meldeadresse des Kindes. Hier ist das Existenzminimum des Kindes durch Unterhalt, Unterhaltsvorschuss und Sozialleistungen gleich mehrfach gesichert. Jedoch konnte man sich in den 1950er Jahren nicht vorstellen, dass beide Eltern das Kind gemeinsam betreuen. Folgerichtig ist "gemeinsames Getrennterziehen" oder "Mitbetreuung" im Unterhaltsrecht nicht geregelt. In der Konsequenz wird das Existenzminimum des Kindes im Haushalt des zeitlich weniger betreuenden Elternteils nicht berücksichtigt. Das Kind hat im zweiten Haushalt laut Unterhaltsrecht kein Existenzminimum.

Der mitbetreuende Elternteil muss den Bedarf des Kindes folglich zusätzlich zum Unterhalt selbst finanzieren. Wenn das Einkommen ausreicht, ist diese Situation unfair und ärgerlich, aber immerhin noch möglich. Wenn aber nur der Selbstbehalt nach Düsseldorfer Tabelle bleibt (derzeit 1.370 €), so kann sich der mitbetreuende Elternteil nur noch entscheiden, wessen Existenzminimum unterschritten wird - das eigene oder das des Kindes.

Ganz anders ist die Situation im Sozialrecht. Hier erhält das Kind im Rahmen der temporären Bedarfsgemeinschaft zunächst seinen zeitanteiligen Regelbedarf. Hinzu kommen die vollen Kosten der Unterkunft für das zusätzlich notwendige Kinderzimmer. Der zweite Elternteil erhält weiterhin den zeitanteiligen Alleinerziehendenzuschlag. Im Sozialrecht wird also die reale Betreuungssituation berücksichtigt, im Unterhaltsrecht hingegen nicht.

Wir erinnern uns, was die Aufgabe des Sozialrechts ist: die Absicherung des grundgesetzlich garantierten Existenzminimums. In allen Fällen, in denen der Selbstbehalt der Düsseldorfer Tabelle unter dem sächlichen Existenzminimum nach Sozialrecht liegt, ist das aktuelle Unterhaltsrecht verfassungswidrig!

Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG)

Stellen wir uns ein modernes, emanzipiertes Elternpaar vor: Beide führen eine Beziehung auf Augenhöhe, beide arbeiten, beide übernehmen maßgebliche Anteile von Sorge und Betreuung - nicht ganz paritätisch, aber im Verhältnis 60:40. Auch nach der Trennung verhalten sich beide Eltern überaus verantwortungsvoll und wollen das bisherige Betreuungsmodell weiterführen.

Ab dem Zeitpunkt der Trennung erfolgt per Gesetz eine zwangsweise Hierarchisierung der Eltern in Betreuungs- und Umgangselternteil. Dies folgt dem früheren Weltbild der 1950er-Jahre, in dem die Mutter das Kind alleine betreute und der Vater bestenfalls zu Besuch kam. Beim Betreuungselternteil sind Lebensmittelpunkt und Meldeadresse des Kindes angesiedelt, was umfangreiche Rechte mit sich bringt. Dem Umgangselternteil sind vor allem Pflichten vorbehalten (Unterhaltspflicht, Erwerbsobliegenheit, Umgangskosten). Ihm bleibt ein Umgangsrecht, das in der familiengerichtlichen Praxis im Zweifelsfall nicht durchsetzbar ist. Diese rechtliche Hierarchisierung hat in aller Regel immer auch eine (konfliktfördernde) Auswirkung auf die Elternbeziehung. Eine gleichberechtigte Elternschaft auf Augenhöhe sieht das deutsche Familienrecht nicht vor.

Im Unterhaltsrecht gilt somit bis heute das Prinzip "Einer betreut, einer bezahlt." - völlig unabhängig vom eigenen Betreuungsanteil und dem Einkommen des anderen Elternteils. Eine Ausnahme bildet nur die absolute Parität (50:50) der Betreuung. Auch bei 48% Betreuungsanteil besteht rechtlich volle Unterhaltspflicht.

Dies führt bei Mitbetreuung jedoch zu einer nicht sachgerechten und diskriminierenden Bewertung der Betreuungsleistung beider Eltern. Die Betreuungsleistung des zeitlich mehr betreuenden Elternteils wird konsequent aufgewertet, die des zeitlich weniger Betreuenden wird konsequent abgewertet, siehe Abbildung unten.

Die Leistung des "Umgangselternteils" wird im Unterhaltsrecht also vollständig entwertet. Bei Mitbetreuung ist dieser darüber hinaus sogar noch schlechter gestellt als ein komplett abwesender Elternteil, da ja auch noch das Existenzminimum des Kindes während der Zeit im eigenen Haushalt zu tragen ist.

Es ist egal, ob der Vater oder die Mutter weniger betreut. In beiden Fällen ist die unterhaltsrechtliche Ungleichbehandlung von qualitativ gleicher Betreuungsleistung hochgradig diskriminierend und verstößt damit gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau.

Elternautonomie (Art. 6 GG)

Für Unterhaltspflichtige besteht eine Erwerbsobliegenheit im Sinne einer Vollzeittätigkeit. Es reicht nicht, den existenzsichernden Mindestunterhalt zu erwirtschaften, sondern es ist gemäß des Leitgedankens der Statussicherung das maximal mögliche Einkommen im aktuellen Beruf zu erreichen - unabhängig von der eigenen Betreuungsleistung.

Kann der Mindestunterhalt nicht gezahlt werden, so tritt sogar eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit ein. Neben der Vollzeittätigkeit ist dann zusätzlich noch eine Nebentätigkeit aufzunehmen. Nach einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde wurde die geforderte Arbeitszeit der gesteigerten Erwerbsobliegenheit von ehemals 60 auf 48 Stunden pro Woche herabgesetzt.

Es ist offensichtlich, dass sich Erwerbsobliegenheit und Mitbetreuung gegenseitig ausschließen. Wenn die Eltern eine Betreuungsaufteilung von 60:40 vereinbaren, so wird dies durch die geforderten Arbeitszeiten nicht nur erschwert, sondern faktisch unmöglich gemacht. Die unterhaltsrechtliche Erwerbsobliegenheit steht bei Mitbetreuung somit im Widerspruch zur Elternautonomie nach Art. 6 GG.

Aber können Eltern im Falle der Mitbetreuung die Unterhaltsleistung nicht individuell regeln? Theoretisch schon, jedoch wäre diese Regelung aufgrund des Verzichtsverbotes (§ 1614 BGB) nichtig. Denn eine individuelle Regelung, die Mitbetreuung berücksichtigt, würde rechtlich wohl stets auf einen verbotenen Teilverzicht hinauslaufen. Unterhaltspflichtige hätten dann das unkalkulierbare Risiko, im Konfliktfall rückwirkend und für Jahre auf die Differenz zum Zahlbetrag nach Tabelle verklagt zu werden. Auch das gesetzliche Verbot einer individuellen, sachlich begründeten Regelung des Unterhalts greift unzulässig in die Elternautonomie nach Art. 6 GG ein.

Freie Berufswahl und Verbot von Zwangsarbeit (Art. 12 GG)

Der Leitgedanke der Statussicherung bei der Entstehung des Unterhaltsrechts wirkt sich auch auf die Berufsfreiheit aus, da es faktisch unmöglich ist, Unterhaltstitel nach unten anpassen zu lassen. Selbst bei objektiv bestehenden oder drohenden Erkrankungen, Unfällen, Berufsunfähigkeit oder Erwerbsminderung werden Unterhaltstitel in der Regel lediglich gestundet, jedoch nicht an die neue Lebenslage angepasst.

Da Arbeit nicht erzwungen werden darf (Art. 12 GG), geht das Unterhaltsrecht den Weg über den formaljuristischen Kniff des fiktiven Einkommens. Unterhaltpflichtigen wird nicht ihr tatsächliches Einkommen angerechnet, sondern das Einkommen, das sie auf Basis ihrer Berufsausbildung erzielen könnten. Es wird also Geld verteilt, das es in der Realität gar nicht gibt. Folglich führen fiktive Einkommen in aller Regel zu fiktiven Zahlungen.

Das rechtliche Konstrukt des fiktiven Einkommens führt sachlogisch entweder zu dauerhafter Verschuldung (Unverfallbarkeit von Unterhaltsschulden nach § 302 InsO) oder zur Unterschreitung des sächlichen Existenzminimums (siehe oben) oder zu beidem. Das Bundesverfassungsgericht muss hier seit Jahren regelmäßig einschreiten, um dem kreativen Umgang der Familiengerichte mit dem Existenzminimum und dem Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Unterhaltspflichtigen Grenzen zu setzen (siehe Urteile der Jahre 2001, 2003, 2008, 2010, 2011, 2012 und 2020) .

Das aktuelle Unterhaltsrecht schränkt einen Wechsel der Tätigkeit oder Reduktion der Arbeitszeit selbst bei objektiven gesundheitlichen Gründen unzulässig ein. Durch das Rechtskonstrukt des fiktiven Einkommens wird das Zwangsarbeitsverbot ausgehebelt und das sächliche Existenzminimum vielfach unterschritten.

Rechtmäßigkeit der Düsseldorfer Tabelle

Die Düsseldorfer Tabelle (DDT) ist eine vom OLG Düsseldorf herausgegebene Leitlinie, die jährlich aktualisiert wird. Sie entält konkrete Anweisungen zur Berechnung des Unterhalts und des Selbstbehalts sowie eine Tabelle mit den sich daraus ergebenden Unterhaltssätzen. Die DDT transformiert damit die abstrakten Unterhaltsregelungen des BGB in konkrete Geldbeträge.

Ursprünglich entstanden, um die Unterhaltsbrechnung zu standardisieren, wird sie seit 1979 auch von allen anderen OLG-Bezirke übernommen. Ebenso richten sich die erstinstanzlichen Familiengerichte und die Beistandschaften der Jugendämter danach.

Die Düsseldorfer Tabelle hat in der Rechtspraxis gesetzesgleichen Charakter. Sie ist jedoch weder Gesetz noch Rechtsverordnung und hat somit keinerlei demokratische oder rechtsstaatliche Legitimation. Obwohl die Anmerkungen der DDT die Möglichkeit individueller Regelungen bei begründeten Einzelfällen explizit vorsehen, werden diese in der Rechtspraxis so gut wie nie angewandt. Mit dem Argument der "Rechtsvereinfachung" verfolgen die zuständigen Institutionen regelhaft einen ausschließlich unterhaltsmaximierenden Ansatz, der zu den oben dargestellten Grundrechtsverletzungen führt.

Die Einschränkung von Grundrechten ohne gesetzliche Grundlage ist jedoch ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz (Art. 19 in Verbindung mit Art. 20 GG). Aus Sicht von FSI stellt die rechtspraktische Anwendung der Düsseldorfer Tabelle daher eine kollektive Rechtsbeugung dar.

Zusammenfassung

Seit der Entstehung des aktuellen Unterhaltsrechts in den 1950er-Jahren gab es umfangreiche gesellschaftliche Entwicklungen. Dies betrifft sowohl das Rollen- und Selbstverständnis der Eltern als auch das psychologische Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. Die heute gewünschte bessere Verteilung von Betreuungs- und Erwerbsarbeit zwischen den Eltern im Sinne von "Care-Arbeit fair teilen" kann das Gesetz daher nicht abbilden.

Aus der rechtlichen Perspektive führt dies nicht nur zu "kleineren Unzulänglichkeiten", sondern zu einer ganzen Reihe von Grundrechtsverstößen, wie FSI begründet hat. Wie FSI bereits hier dargestellt hat, können auch die Unterhaltssätze der Düsseldorfer Tabelle in über der Hälfte der Fälle nicht bezahlt werden.

Aus der gesellschaftlichen Perspektive bewirkt das aktuelle Unterhaltsrecht eine massive finanzielle und rechtliche Sanktionierung von gemeinsamer Betreuung - die politisch und gesellschaftlich doch eigentlich gewollt ist. Die vorgenommene Hierarchisierung der Eltern in Betreuungs- und Umgangselternteil wirkt zudem konfliktverschärfend und streitfördernd.

Ein Gesetz, das die Realität in der Mehrzahl der Fälle nicht ausreichend abbildet, in Teilen gegen die Verfassung verstößt und sachfremde Fehlanreize setzt, ist dysfunktional. Die Beibehaltung dysfunktionaler rechtlicher Regelung bewirkt zweierlei: Ausweichverhalten der betroffenen Bürger und eine Erosion der rechtsstaatlichen Legitimierung. Beides kann nicht gewollt sein.

FSI plädiert daher für eine umfassende und zeitnahe Reform des Familienrechts unter breiter Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Denn eine nachhaltige Familienpolitik kann nicht gegen die Hälfte der Bevölkerung umgesetzt werden - weder gegen die eine, noch gegen die andere Hälfte.

(Edit 27.07.2023: Der Abschnitt zur Düsseldorfer Tabelle wurde ergänzt.)

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