Warum das Unterhaltsrecht gerade kollabiert

18. Dezember 2023

Die Düsseldorf Tabelle für 2024 wurde veröffentlicht. Die Realität spielte dabei offenbar keine Rolle. Man weigert sich in Politik und Gerichten weiterhin, einfach mal nachzurechnen. Die Entscheidung zwischen Erwerbsarbeit und Bürgergeldbezug fällt jedes Jahr leichter.

Es ist seit Jahren bekannt, dass sich die Düsseldorfer Tabelle von der Reallohnentwicklung vollständig entkoppelt hat - allein von 2022 zu 2024 stiegen die Sätze um über 20%. Obwohl die Tabelle weder Gesetz noch Verordnung ist, wird sie gesetzesgleich angewandt - was offen rechtswidrig ist. Ebenso werden objektiv notwendige Ausgaben der Unterhaltspflichtigen regelhaft nicht anerkannt - was ebenfalls rechtswidrig ist. Unser Beitrag Das aktuelle Unterhaltsrecht ist grundgesetzwidrig analysiert die Vielzahl der Grundrechtsverstöße, die "zur Rechtsvereinfachung" bisher in Kauf genommen werden.

Die obigen Punkte sind alle langjährig bekannt. Für Unterhaltspflichtige war die Situation oftmals ungerecht und ärgerlich, aber immerhin noch leistbar. Damit ist es nun vorbei. Jeder, der die Summe aus Selbstbehalt und dem Unterhalt für zwei Kinder mit der Einkommensverteilung vergleicht, sieht, dass das deutsche Unterhaltssystem gerade kentert - und zwar mit mathematischer Gewissheit.

Wir haben auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des aktuellen Unterhaltsrechts bereits in unserem Beitrag Ein Land, zwei Existenzminima aufmerksam gemacht. Mit den gestiegenen Werten für 2024 hat sich die Dynamik zu einer akuten Systemkrise verschärft. Wir greifen nochmals auf das damalige Fallbeispiel zurück, um das Ausmaß der Problematik greifbar zu machen.

Fallbeispiel

Die im Folgenden beschriebene Problematik ist geschlechtsunabhängig. Sie hat Ihre Ursache in der rechtlichen Hierarchisierung der Eltern in Trennungsfamilien und entsteht genauso auch bei umgekehrter Rollenverteilung oder gleichgeschlechtlichen Elternpaaren.

Ausgangssituation
Paul und Paula haben zwei Kinder, die 6 und 10 Jahre alt sind. Sie betreuen beide Kinder nach einer Trennung einvernehmlich im Verhältnis 60:40. Pro Monat sind dies durchschnittlich 18 Tage bei Paula und 12 Tage bei Paul.

Paul verdient monatlich 2.165€ netto. Paula verdient 1.732€ pro Monat. Dies sind 20% weniger als Paul, da ihr Betreuungsanteil etwas höher ist.

Das Einkommen von Paul entspricht dem durchschnittlichen Nettoeinkommen in 2021 (Quelle). Das Fallbeispiel repräsentiert also eine Situation aus der Mitte der Gesellschaft.

Bewertung im Unterhaltsrecht

Das Ziel von Beistandschaften und Familiengerichten ist die Maximierung der Unterhaltszahlungen an den zeitlich mehr betreuenden Elternteil. Die juristische Illusion ist hierbei, dass es den Kindern umso besser gehen würde, je mehr Geld an die Meldeadresse gezahlt wird. Dass die Kinder auch im zweiten Haushalt ein Recht auf ihr Existenzminimum haben, wird vollständig ignoriert.

Rechnung von Beistandschaften und Familiengerichten
Laut Düsseldorfer Tabelle müsste Paul monatlich 454€ pro Kind, insgesamt also 908€, an Paula zahlen. Damit würde jedoch sein Selbstbehalt von 1.450€ unterschritten werden. Daher kann nur der Zahlbetrag des Mindestunterhalts in Höhe von 426€ eingefordert werden, also 852€ für beide Kinder.

Dies reicht leider auch nicht, um Pauls Selbstbehalt zu wahren. Um einen Mangelfall zu vermeiden, wird daher ein fiktives Einkommen von 137€ angesetzt. Diesen Betrag gibt es gar nicht (daher fiktiv), aber Paul könnte ihn ja durch einen Nebenjob hinzuverdienen, um damit dann den Mindestunterhalt bezahlen.

Fazit zum Unterhaltsrecht

  • Ausblenden des Existenzminimums der Kinder im 2. Haushalt
  • Fehlende Berücksichtigung realer und unabweisbare Kosten
  • Keine Reduktion des Unterhaltssatzes, selbst bei 40% Mitbetreuung und mehr
  • Unterschreitung des Existenzminimums durch Anrechnung fiktiver Einkünfte
  • Zeitliche Verhinderung von Mitbetreuung durch volle Erwerbsobliegenheit (48 Arbeitsstunden pro Woche)
  • Finanzielle Verhinderung von Mitbetreuung durch fehlende Berücksichtigung der Bedarfe der Kinder
  • Drohende Verschuldung durch Unterhaltssätze, die objektiv nicht leistbar sind

Bewertung im Sozialrecht

Das Ziel im Sozialrecht ist die Existenzsicherung aller Mitglieder eines Haushalts. Anders gesagt: Das Grundgesetz garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum (Art. 1 GG) und das Sozialrecht buchstabiert die konkrete Ausgestaltung aus. Liegt das Einkommen niedriger als das sächliche Existenzminimum, so besteht ein Recht auf Aufstockung auf diesen Betrag.

Rechnung der Jobcenter
Laut Sozialrecht steht Paul selbst ein Regelbedarf von 563€ zu. Die Kosten der Unterkunft werden in Höhe von 626€ übernommen. Hinzu kommt ein Grundfreibetrag von 100€ und ein zeitanteiliger Alleinerziehendenmehrbedarf von 81€. Das sich so ergebende Existenzminimum ist mit 1.370€ zwar um 80€ niedriger als der Selbstbehalt im Unterhaltsrecht, allerdings werden nun noch die Kinder berücksichtigt. Hinzu kommt auch noch ein Erwerbstätigenfreibetrag von 248€, die er von seinem Einkommen behalten kann.

Für die Zeit, in der die Kinder bei Paul sind, besteht eine temporäre Bedarfsgemeinschaft. Für die Kinder erhält Paul den zeitanteiligen Regelsatz in Höhe von 312€. Weiter übernimmt das Jobcenter die Unterkunftskosten der Kinder in Höhe von 322€ (zwei kleine Zimmer).

Die titulierten Unterhaltszahlungen kann Paul von seinem Einkommen absetzen. Anders gesagt: Den Unterhalt von 852 € übernimmt der Staat, da es eine unabweisbare Ausgabe ist.

Im Bescheid des Jobcenters wird ein monatlicher Bedarf von 3.104€ festgestellt. Zusätzlich zu seinem Einkommen hat Paul also ein Anrecht auf 939€ Aufstockung nach SGB II.

Sozr Paul 2024

Fazit zum Sozialrecht

  • Das Existenzminimum der Kinder wird berücksichtigt.
  • Die regionalen Kosten der Unterkunft werden übernommen.
  • Das Existenzminimum des gesamten Haushalts ist gesichert.
  • Titulierte Unterhaltsforderungen werden übernommen, die Gefahr der Verschuldung ist abgewendet.
  • Freibeträge fördern den Erwerbsanreiz.

Warum noch arbeiten?

Vergleich Haushalte

In der obigen Tabelle haben wir die Ergebnisse des Fallbeispiels übersichtlich zusammengestellt.

Armut durch Unterhalt

Paul verbleibenden abzüglich der unabweisbaren Kosten (Mindestunterhalt und Existenzminimum der Kinder) weniger als ein Drittel seines Einkommens. Sein Existenzminimum ist deutlich unterschritten. Grund ist, dass die Bedarfe der Kinder in seinem Haushalt im Unterhaltsrecht unsichtbar sind. Weiter werden ihm "fiktive Einkommen" angerechnet, die nicht vorhanden sind, statt eine einfache Wahrheit anzuerkennen: Selbst der Mindestunterhalt ist für ihn objektiv nicht leistbar.

Dies beschreibt die Situation einer Mehrheit der Unterhaltspflichten bis weit in die mittleren Einkommensschichten hinein: Unabhängig von der eigenen Arbeitsleistung verbleibt auf dem Papier nur der Selbstbehalt von 1.450€ und in der Realität noch weitaus weniger. Die gesellschaftlich eigentlich gewünschte Mitbetreuung wird hier gezielt unmöglich gemacht. Ein Rechtsstaat, der Menschen derart in Armut und Verschuldung treibt, verliert seine Bürger.

Gelebte Elternschaft nur mit Bürgergeld

Da im Unterhaltsrecht mit Geld gerechnet wird, das gar nicht da ist, verbleibt das Bürgergeld oftmals als einziger Ausweg. Hier steht zwar nur das sächliche Existenzminimum zur Verfügung, aber dies ist in der Regel höher als der Selbstbehalt des Unterhaltsrechts. Man muss es so klar sagen: Gelebte Elternschaft und Mitbetreuung ist für die Mehrheit der Trennungsfamilien nur noch mit Aufstockung nach SGB II möglich.

Das gesellschaftliche Problem ist, dass sich Mehrarbeit auch hier nicht wirklich lohnt. Im Beispiel oben stehen Paul mit einer Vollzeitstelle 164€ mehr pro Monat zur Verfügung als mit einem Minijob.

Status "alleinerziehend" als Einkommensquelle

Betrachten wir nun die andere Seite: Die Bedarfe der Kinder im Haushalt von Paula sind nachvollziehbar höher, weil auch ihr Betreuungsanteil höher ist. Als zeitlich mehr Betreuende gilt sie als "alleinerziehend" - unabhängig vom tatsächlichen Betreuungsanteil. Sie erhält damit den vollen Kindesunterhalt, das Kindergeld sowie den steuerlichen Entlastungbetrag für Alleinerziehende und ist antragsberechtigt für diverse andere Unterstützungsleistungen.

In der Übersicht wird klar, dass die Summe dieser Leistungen das Existenzminimum der Kinder deutlich überkompensiert. Ihr verbleibendes Budget ist so um 40% höher als ihr Einkommen. Aufgrund dieses "Zweiteinkommens" macht Mehrarbeit auch für Paula nur begrenzt Sinn.

Es findet also ein leistungsloser Einkommenstransfer statt, der von geneigter Seite gerne mit der "beruflichen Lebensverlaufsperspektive" des zeitlich mehr betreuenden Elternteil verargumentiert wird. Das Unterhaltsrecht dient jedoch ausschließlich der Existenzsicherung des Kindes. Es ist weder eine gleichstellungspolitische Entgeltersatzleistung noch hat es die individuellen Lebensentscheidungen erwachsener Menschen zu kompensieren.

Gerade die im Wortsinne Alleinerziehenden, die selbst Bürgergeld beziehen, haben von diesem System übrigens am wenigsten, da die Sozialleistungen vollständig mit Unterhalt und Kindergeld verrechnet werden - sie bleiben arm.

Fazit

  • Durch das aktuelle Unterhaltsrecht besteht für beide Eltern zunehmend kein Erwerbsanreiz mehr.
  • Mitbetreuung wird für Trennungsfamilien sowohl zeitlich (Erwerbsobliegenheit) als auch finanziell (Existenzminimum) unmöglich gemacht.
  • Höhe und Struktur der Unterhaltssätze zwingt Unterhaltspflichtige bis weit in die mittleren Einkommen in den Sozialleistungsbezug - insbesondere bei Mitbetreuung.
  • Da der Kindesunterhalt unabhängig vom Einkommen des Berechtigten ist, kommt es zur Durchreichung von Sozialleistungen an Besserverdienende.
  • Das Konfliktniveau zwischen den Eltern steigt, weil die hohen Unterhaltssummen für beide Eltern zunehmend existenziell werden.
  • Der sinkende Erwerbsanreiz führt kurzfristig zum Rückzug aus dem Arbeitsmarkt und verstärkt langfristig Altersarmut für beide Eltern.
  • Der staatliche Durchgriff auf objektiv nicht leistbare Zahlungen führt zu einer Erosion der rechtsstaatlichen Legitimation.
  • Das hohe finanzielle Risiko von Elternschaft und Trennung wird mittelfristig zu einem weiteren Rückgang der Geburtenrate führen.
  • Die beschriebenen Effekte verstärken sich mit jeder jährlichen Erhöhung der Regelsätze.

Ausblick

Die obigen Probleme und ihre Konsequenzen sind in Politik und Ministerien langjährig bekannt. Eine Lösung wäre die gleichberechtigte Aufteilung von Betreuungs- und Erwerbsverantwortung zwischen beiden Eltern im Sinne der Art. 3 und 6 GG. Beide betreuen, beide bezahlen.

Aufgrund der Vielzahl sachfremder Fehlanreize und ideologischer Einflussnahmen wird es jedoch absehbar zu keiner wirksamen Reform kommen. Die Politik wartet weiterhin auf eine Entscheidung der Gerichte, um die Verantwortung bei diesem unpopulären Thema delegieren zu können. Und die Gerichte warten weiterhin auf sinnvolle gesetzliche Regelungen eines entscheidungsunfähigen Politikbetriebs.

Es ist anzunehmen, dass im Dramadreieck der zuständigen Ministerien schließlich das BMAS darauf hinwirken wird, die Absetzbarkeit von Unterhaltstiteln abzuschaffen, nachdem man dort die Höhe des Mittelabflusses aus dem Sozialbudget an dieser Position festgestellt hat. In der Folge werden die Phantasiebeträge der Düsseldorfer Tabelle in weit über 80% der Fälle faktisch nicht mehr gezahlt werden können, wie es jetzt bereits beim Unterhaltsvorschuss ist. Das Unterhaltsrecht wäre dann offenkundig ohne Bezug zur Lebensrealität und damit so dysfunktional, dass man dies auch mit der langjährig eingeübten familienpolitischen Einäugigkeit nicht mehr übersehen kann.

Manche Systeme kann man reformieren. Andere müssen erst kollabieren, um den Handlungsdruck für eine sinnvolle Reglung aufzubauen.

(Edit 22.12.2023: Erwerbstätigenpauschale bei Aufstockung berücksichtigt.)

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