Das Bundesjustizministerium hat die Grundzüge der geplanten Reform des Unterhaltsrechts veröffentlicht. Es ist zu begrüßen, dass sich die Politik diesem für viele Trennungsfamilien wichtigen Themen nach vielen Jahren aktiver Vermeidung nun zuwendet. FSI nimmt zusammen mit fünf weiteren Verbänden zu den Eckpunkten des Ministeriums Stellung.
In der Pressekonferenz vom 25.08.2023 hat Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann die Grundzüge der geplanten Reform des Unterhaltsrechts dargestellt (Eckpunktepapier des BMJ). Es wurden einige wichtige Punkte angesprochen, die wir unterstützen können:
Wir begrüßen daher, dass sich die Politik diesem wichtigen Reformvorhaben nach mehreren Jahren aktiver Vermeidung nun zuwenden will. Jedoch enttäuscht der im Positionspapier veröffentlichte Ansatz gegenüber den eigenen Ankündigungen, da er der selbsterklärten Zielsetzung nicht gerecht wird.
Der vorliegende Reformvorschlag versucht ein System, das vollständig auf das Familienmodell der 1950er ausgerichtet ist, durch kleinere Reparaturen an die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Gegenwart anzupassen. Dies kann nicht gelingen! Mehr noch, es entsteht der Eindruck, dass man das Ausmaß der Problematik noch gar nicht vollständig erfasst hat:
Die Unterhaltssätze können in der Mehrzahl der Fälle nicht mehr bezahlt werden.
Nach aktueller Studienlage kann der Kindesunterhalt in rund 50% der Fälle nicht und in weiteren 25% nicht vollständig gezahlt werden.[1] Die Rückholquote für den Unterhaltsvorschuss stagniert seit Jahren bei 18%.[2] Gleichzeitig gehen Anzeigen wegen Unterhaltspflichtverletzung zurück und machen nur einen verschwindend geringen Anteil der Fälle aus.[3]
Trotz massiver staatlicher Durchgriffrechte ist der Kindesunterhalt also in rund drei Viertel der Fälle überhaupt nicht mehr leistbar, weil sich die Entwicklung der Unterhaltssätze in den letzten Jahrzehnten immer mehr von der Reallohnentwicklung entkoppelt hat. Ein Recht, das die Realität aber in weit über der Hälfte der Fälle nicht mehr ausreichend abbildet, ist vollständig dysfunktional.
Das sächliche Existenzminimum im zweiten Haushalt wird nicht berücksichtigt.
Es ist logisch in keiner Weise nachvollziehbar, warum ein Kind in 60 % der Betreuungszeit 100 % Bedarf haben soll und in den restlichen 40 % gar keinen.
Dennoch besteht im Unterhaltsrecht die Fiktion, die Bedarfe des Kindes entstünden ausschließlich an der Meldeadresse. Bedarfe im Haushalt des Unterhaltspflichtigen sollen hingegen aus dessen Selbstbehalt gedeckt werden, was oftmals zur Unterschreitung des Existenzminimums führt. Wir halten dies für grundgesetzwidrig.
Unterhaltspflichtige werden zunehmend in den Bezug von Bürgergeld gedrängt.
Die beiden zuvor beschriebenen Missstände führen in der Konsequenz dazu, dass für immer mehr Unterhaltspflichtige die Aufstockung nach SGB II die einzig verbleibende Option ist.
Mit dem Ziel der Unterhaltsmaximierung wird im Unterhaltsrecht oftmals von zu hohen (teils „fiktiven“) Einkünften ausgegangen, während tatsächliche Aufwendungen unberücksichtigt bleiben.[4] Im Sozialrecht werden hingegen die realen Bedarfe des Haushalts betrachtet und auch der titulierte Unterhalt berücksichtigt. Dies führt dazu, dass der Selbstbehalt des Unterhaltsrechts oftmals unter dem im Sozialrecht definierten sächlichen Existenzminimum liegt. Wir halten auch diesen Sachverhalt für grundgesetzwidrig.
Eine kosmetische Änderung des Unterhalts um 100 € bei Mitbetreuung wird an den grundlegenden systemischen Problemen des Unterhaltsrechts nichts ändern. Auch die – an sich begrüßenswerte – Erhöhung und Dynamisierung des Selbstbehalts hilft nicht weiter.
So führt eine Erhöhung des Selbstbehalts vor dem Hintergrund der obigen Punkte zwangsläufig zu noch mehr Mangelfällen. Ohne diese Maßnahme wiederum drängt der zu geringe Selbstbehalt Unterhaltspflichtige weiter in die Aufstockung nach SGB II, insbesondere in Fällen der gesellschaftlich doch eigentlich gewünschten Mitbetreuung.
Dilemma: In beiden Fällen werden staatliche Unterstützungsleistungen zunehmen. Für beide Eltern besteht zunehmend kein Erwerbsanreiz mehr, beiden Eltern droht Altersarmut.
Wenn aber der Staat im derzeitigen System zunehmend den Unterhalt der Kinder übernehmen muss (sei es durch Unterhaltsvorschuss oder über die durchgereichten Mittel aus dem Sozialbudget[5]), wäre es da nicht sinnvoll, die Verteilung des notwendigen Kindesunterhalts zwischen den Eltern untereinander sowie Eltern und Staat grundsätzlich neu zu regeln?
Hierzu müssen die folgenden, grundlegenden gesellschaftlichen Fragestellungen diskutiert werden. Leider hat es das Bundesfamilienministerium in den letzten Jahren versäumt, einen offenen zivilgesellschaftlichen Dialog hierzu zu moderieren.
1.) Wollen wir Sorgearbeit fair teilen?
Eine bessere Verteilung von Sorgearbeit wird nur bei gleichzeitiger Verteilung der Erwerbsverantwortung möglich sein. Dies wird durch das Prinzip „einer betreut, einer bezahlt“ im aktuellen Unterhaltsrecht jedoch strukturell verhindert. Für eine gleichberechtigte Aufteilung von Sorge- und Erwerbsverantwortung zwischen den Eltern braucht es im Unterhaltsrecht einen Paradigmenwechsel hin zu „beide betreuen, beide bezahlen“.
2.) Wie hoch sind die realen Bedarfe der Kinder in beiden Haushalten?
Das Unterhaltsrecht geht davon aus, dass Kinder lediglich an der Meldeadresse Bedarfe hätten. Die bei Mitbetreuung entstehenden Bedarfe im zweiten Haushalt werden ignoriert. Sachgerecht ist vielmehr der im Sozialrecht herrschende Grundsatz „die Bedarfe der Kinder entstehen dort, wo sie sich aufhalten“.
3.) Wie sichern wir die Bedarfe der Kinder in beiden Haushalten?
Oft wird übersehen, dass die Eltern auch nach einer Trennung eine Budgetgemeinschaft bilden, denn die Bedarfe der Kinder können nur aus dem Einkommen der Eltern gedeckt werden. Reicht dieses Einkommen der Eltern nicht aus, so muss der Staat das Existenzminimum der Kinder absichern. Ein Ansatz wäre hier eine grundgesetzkonforme Kindergrundsicherung, die die Bedarfe der Kinder in beiden Haushalten in den Blick nimmt.[6]
4.) Welche finanzielle Belastung ist für beide Eltern zumutbar?
Derzeit geht das Unterhaltsrecht von pauschalierten Beträgen aus, die pro Kind aufsummiert werden. Bei geringem Einkommen oder mit steigender Anzahl von Kindern werden Unterhaltspflichtige so stets auf ihren Selbstbehalt zurückgeworfen. Für immer mehr Betroffene macht Erwerbstätigkeit über den Selbstbehalt hinaus daher ökonomisch überhaupt keinen Sinn mehr.
Ein zeitgemäßes Unterhaltsrecht muss gewährleisten, dass für beide Eltern ein Erwerbsanreiz erhalten bleibt. Um dies zu erreichen, sollte man den zumutbaren Unterhalt über einen prozentualen Anteil des Einkommens ermitteln.
5.) Wollen wir Sorgearbeit bezahlen?
Der Kindesunterhalt hat unter dem Vorwand der Statussicherung zunehmend den Charakter eines Einkommenstransfers erhalten. Im öffentlichen Diskurs erscheint hier der Zweck des Kindesunterhalts oftmals mit anderen Themen vermischt.[7]
Der Kindesunterhalt dient jedoch ausschließlich der Existenzsicherung des Kindes. Er ist keine gleichstellungspolitische Entgeltersatzleistung und auch keine Entschädigungszahlung für Lebensentscheidungen erwachsener Menschen. Dies kann Kindesunterhalt auch gar nicht leisten. Wenn wir als Gesellschaft Sorgearbeit entgelten wollen, dann bedarf es dafür einer eigenen gesetzlichen Regelung mit entsprechender Finanzierung.
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen gehen wir davon aus, dass eine Unterhaltsreform, wie sie im Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums dargestellt wird, keine Auswirkungen auf die eigentlichen Probleme von Trennungsfamilien hat, weil sie diese gar nicht adressiert.
Folgende Entwicklungen der nächsten Jahre sollten doch für alle Beteiligten absehbar sein:
Ohne tiefgreifende Reform bildet sich hier ein System aus massiven Fehlanreizen aus. Für beide Eltern sinkt der Erwerbsanreiz – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Dies hat kurzfristige Folgen für den Arbeitsmarkt und langfristige Folgen für die Altersrente. Ebenso ist eine zunehmende Belastung der Sozialsysteme absehbar. Nicht zu vergessen sind die transgenerationalen Auswirkungen eines weiterhin hohen Konfliktniveaus auf die Kinder.
Gesellschaftlich führt ein dysfunktionales Unterhaltsrecht zunächst zu Ausweichverhalten der Betroffenen (Rückzug aus dem Arbeitsmarkt, Sozialleistungsbezug). Erfolgt dauerhaft keine Anpassung an die gesellschaftlichen Realitäten, so trägt dies letztlich zur Erosion der rechtsstaatlichen Legitimierung bei – die Betroffenen kündigen dem Staat innerlich.
Ein weiteres Aufschieben der notwendigen Reformschritte wird somit absehbar zu immensen gesellschaftlichen Kosten führen. Der Einstieg in die Aushandlung eines zukunftsfähigen Unterhaltsmodells lohnt sich also für alle.
Wir möchten nicht nur kritisieren, sondern wir möchten auch konkrete Maßnahmen benennen, durch die das obige Szenario zu vermeiden ist.
Wir würden uns sehr freuen, wenn die obigen Vorschläge zum Einstieg in einen konstruktiven zivilgesellschaftlichen Dialog beitragen.
Unterzeichnende Verbände
Forum Soziale Inklusion e.V. (Kontakt für inhaltliche Fragen)
Eltern für Kinder im Ruhrgebiet e.V.
[1] Siehe DIW 2014 und DJI 2020
[2] Siehe BMFSFJ 2022
[3] Siehe BKA 2022, die Anzahl der Verurteilungen dürfte wegen der oftmals fehlenden Unterhaltsfähigkeit noch weitaus geringer sein.
[4] Zwar wird in der Anlage zur Düsseldorfer Tabelle explizit auf die Möglichkeit zur Anpassung hingewiesen, hiervon wird in der Rechtspraxis jedoch quasi nie Gebrauch gemacht. Die juristische Illusion ist oftmals, Kindern ginge es besonders gut, wenn der Unterhaltsbetrag möglichst hoch sei.
[5] Siehe §11b (1) Nr. 7 SGB II
[6] Im aktuellen Gesetzentwurf der Kindergrundsicherung (Stand 30.08.2023) ist allein der Elternteil an der Meldeadresse antragsberechtigt. Existenzminimum und Bedarfe des Kindes im zweiten Haushalt werden – wie im Unterhaltsrecht – ignoriert. Wir halten dieses Vorgehen in beiden Fällen für grundgesetzwidrig.
[7] Dies wird auch durch Reaktionen wie „Ja, aber dann hat die Mutter doch weniger Geld.“ in der medialen Berichterstattung zum vorliegenden Reformvorschlag deutlich.
[8] Hinzu kommt noch die geplante einseitige Ausgestaltung der Kindergrundsicherung, die die Bedarfe der Kinder im zweiten Haushalt grundgesetzwidrig ignoriert.
[9] Hierzu würde die Streichung des zweiten Satzes in §1606 (3) BGB ausreichen.
[10] Wenn das Kind krank ist oder aus anderen Gründen betreut werden muss, so ist der verantwortliche Elternteil am gezählten Tag hierfür zuständig. Es sei hierzu auch auf die Rechtsprechung zur Zählung der Tage bei einer temporärer Bedarfsgemeinschaft hingewiesen (siehe SG Mainz Az. S 3 AS 312/11).
[11] Bereits jetzt gibt es für Trennungseltern die Möglichkeit, eine „Umgangsvereinbarung“ zu treffen. Diese hat jedoch keinerlei rechtliche Relevanz und ist daher oftmals nicht durchsetzbar.