Seit Jahren wird über den Ausfall von Kindesunterhalt berichtet. Weder die Medien noch die deutsche Sozialforschung stellen jedoch die naheliegende Frage nach den Ursachen. FSI veröffentlicht nun eine eigenen Analyse.
Bereits vor zwei Jahren ging FSI der Frage nach, warum Kindesunterhalt trotz massiver staatlicher Durchgriffsrechte nicht oder nicht in voller Höhe gezahlt werden kann (Quelle). Obwohl das Problem langjährig bekannt ist, liegt bis heute keine wissenschaftliche Untersuchung zu den Gründen von Unterhaltsausfall vor, so dass FSI eine entsprechende statistische Plausibilitätsanalyse nun selbst durchführt.
Ziel ist hierbei keine Abhandlung, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern ein Machbarkeitsnachweis, dass eine solche Analyse mit öffentlich zugänglichen Daten ohne weiteres möglich wäre.
Es ist zu hinterfragen, warum entsprechende Untersuchungen weder von Seiten der Forschung noch von den verantwortlichen Ministerien durchgeführt werden. Denn insbesondere im Zusammenhang mit der geplanten Reform des Unterhaltsrechts erscheint eine solche Analyse doch zwingend notwendig, damit ein dysfunktionales Recht nicht durch ein anderes ersetzt wird.
Seit Jahren berichten Medien regelmäßig über das Problem ausbleibender oder unvollständiger Zahlungen von Kindesunterhalt. Ausgangspunkt sind häufig Arbeiten forschungsnaher Institutionen.
Studienlage
Das Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlichte im Jahr 2014 die Studie „Unterhaltsansprüche und deren Wirklichkeit“ (Quelle). Hierauf aufbauend folgte 2016 die Veröffentlichung „Alleinerziehende unter Druck“ der Bertelsmann-Stiftung (Quelle).
Im Jahr 2020 veröffentlichte das vom BMFSFJ maßgeblich geförderte Deutsche Jugendinstitut (DJI) eine Untersuchung mit dem vielsagenden Titel „Alleinerziehend, alleinbezahlend?“ (Quelle). Auf dieser Basis folgte 2021 wiederum die Bertelsmann-Stiftung mit der Fortsetzung „Alleinerziehende weiter unter Druck“ (Quelle).
Allen diesen Arbeiten gemeinsam ist, dass ausschließlich Unterhaltsberechtigte befragt wurden, warum sie glauben, dass Unterhalt nicht vollständig gezahlt wird. Eine wissenschaftliche Arbeit, bei der die Unterhaltspflichtigen selbst befragt werden und möglicherweise auch Nachweise vorlegen, gibt es bis heute nicht.
Kernaussage der obigen Arbeiten ist, dass Kindesunterhalt in rund 50% der Fälle nicht und in weiteren 25% nicht vollständig gezahlt wird. Ein Unterhaltsrecht, das in rund 75% der Fälle nicht erfüllbar ist, ist jedoch offen dysfunktional. Wäre hier die Frage nach den Gründen nicht nur naheliegend, sondern sogar zwingend?
Unterhaltsvorschuss
Wenn kein oder kein voller Unterhalt gezahlt wird, können Berechtigte zunächst Unterhaltsvorschuss (UHV) beantragen. Dieser Vorschuss wird dann von den Jugendämtern bei den Unterhaltspflichtigen beigetrieben, er ist also entgegen langläufiger Meinung keine Soziallleistung.
Nach den Daten des BMFSFJ pendelt die bundesweite Rückgriffsquote beim UHV seit Jahren um die 18% (Quelle). Bereits im Jahr 2003 versuchte das Jugendamt Hamburg im Rahmen eines Modellprojekt, offene Unterhaltschulden per Inkasso beizutreiben – mit ähnlicher Erfolgsquote (Quelle). Ebenso in Berlin, wo ein entsprechendes Projekt 2005 wegen der mangelnden Erfolgsaussichten verworfen wurde (Quelle).
Trotz massiver staatlicher Durchgriffrechte ist ausbleibender Unterhalt also in über 80% der Fälle uneinbringlich – und das offenbar seit Jahrzehnten (Quelle).
Kriminalstatistik
In Politik und Medien wird häufig der (falsche) Eindruck erweckt, man könne sich aussuchen, ob Unterhalt gezahlt wird. Dabei ist die vorsätzliche Verletzung der Unterhaltspflicht nach §170 StGB strafbar. Voraussetzung für Strafbarkeit ist jedoch eine bestehende Unterhaltsfähigkeit - und genau diese ist oftmals nicht gegeben.
Die kriminalstatistische Auswertung von Partnerschaftsgewalt (denn als solche zählt Unterhaltspflichtverletzung inzwischen) ergibt jedoch einen seit Jahren rückläufigen Trend (Quelle, S. 33) mit zuletzt 2.450 Anzeigen - nicht Verurteilungen. Dies ist bei rund 2,34 Mio. Trennungskindern ein verschwindend geringer Anteil von 0,1%.
Die im Folgenden dargestellten Rechnungen sind im Detail als GoogleSheet öffentlich zugänglich (Quelle). Für eine Abschätzung der statistischen Unterhaltsfähigkeit ging FSI wie folgt vor:
Datenbasis bildet die Verdiensterhebung 2023 des Statistischen Bundesamtes (Datensatz 62361), die die Verteilung der Bruttojahresverdienste von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in Vollzeit ausweist.
Da keine Daten zum Nettoeinkommen pro Person vorliegen, müssen diese aus dem Bruttoeinkommen ermittelt werden. Hierzu wird eine Funktion modelliert, die jedem Bruttoeinkommen ein anteiliges Netto zuordnet. Zur Modellierung wurde auf den im Internet verfügbaren Brutto-Netto-Rechner der Sparkassen zurück gegriffen (Quelle).
Das folgende Diagramm zeigt die Verteilung der so ermittelten Nettoeinkommen bei Vollzeittätigkeit. Die Verteilung gibt den Anteil an der Gesamtheit an, der höchstens über das jeweilige Nettoeinkommen verfügt. Aus den Daten ergibt sich ein Medianwert von 2.667 €.[1]
Auf der Bedarfsseite wurden verschiedene Szenarien für Unterhaltspflichtige zusammengestellt. Die setzen sich jeweils aus dem Selbstbehalt und den Zahlbeträgen nach Düsseldorfer Tabelle für die Jahre 2023 und 2024 zusammen (Quelle). Diese Szenarien decken den Bereich von einem Kind in der untersten Altersgruppe bis hin zu drei Kindern in der obersten Altersgruppe ab.
Aus der Verteilung der Nettoeinkommen lässt sich nun der prozentuale Anteil ermitteln, die die unterhaltsrechtlichen Soll-Beträge nur teilweise oder wegen Unterschreitung des Selbstbehalts gar nicht leisten können. Hierzu wird in den Einkommensdaten verglichen, welche Anteil der Einkommen das jeweils notwendige Netto aus obiger Tabelle unterschreitet, denn dieser Teil ist nur teilweise leistungsfähig. Wird sogar der Selbstbehalt unterschritten, so liegt keine ausreichende Leistungsfähigkeit vor.
Anmerkungen zur Methodik
Folgende Punkte des Ansatzes sind im Weiteren zu berücksichtigen:
Für das Jahr 2024 ergibt die in der folgenden Tabelle dargestellte statistische Zahlungsfähigkeit.
Leistungsfähigkeit
Deutlich wird, dass selbst bei Vollzeittätigkeit in rund 2 % der Fälle eine fehlende unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit vorliegt. Hierbei sind Fälle wie Arbeitslosigkeit, Teilzeiteinkommen, Einkommen aus Selbstständigkeit, Renten wegen Erwerbsminderung oder Unterbeschäftigung noch nicht einbezogen.
Weiter fällt auf, dass insbesondere bei mehr als einem Kind oder älteren Kindern, der Unterhalt in 25 % bis 60 % der Fälle nur teilweise geleistet werden kann.
Der Mittelwert der vorliegenden Verteilung beträgt 3.110 €, während das statistische Mittel über alle Nettoeinkommen (Voll- und Teilzeit) mit 2.555 € deutlich geringer ist (Quelle). Wenn man alle sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse mit einbezieht, dürfte also auch der Medianwert deutlich geringer sein.
Zu berücksichtigen sind auch noch Bezieher von Transferleistungen, die in aller Regel nicht unterhaltsfähig sind.
Die vorliegenden Ergebnisse stellen bezüglich der Zahlungsfähigkeit also ein
Best-Case-Szenario im Sinne einer Abschätzung nach oben dar.
Eine entsprechende Erweiterung der Datenbasis würde also dazu führen, dass der Anteil der nicht-leistungsfähigen Personen zunimmt und der Anteil mit voller Leistungsfähigkeit abnimmt.
Die Zahlen der statistischen Auswertung würden sich also der Studienlage (siehe Abschnitt zur Ausgangslage) annähern. Ein Unterhaltsrecht, das nur noch in rund 25 % aller Fälle zu leistbaren Zahlungsverpflichtungen führt, bildet die Realität nicht mehr ab und ist offen dysfunktional.
Erwerbsanreiz
In der öffentlichen Diskussion zum Kindesunterhalt bisher weitgehend unbeachtet ist der Anteil des verbleibenden Nettos, der in der rechten Spalte dargestellt ist.
Bei einem Einkommenstransfer von 40 % und mehr fragt sich jeder Betroffene – völlig unabhängig von unterhaltsrechtlichen Leitlinien – wofür er oder sie noch arbeitet. Wenn Mehrarbeit nicht zu mehr Einkommen, sondern zu höheren Unterhaltssätzen führt, so verursacht dies Ausweichverhalten. Hier setzt das Unterhaltsrecht arbeitsmarktpolitische Fehlanreize, die gesellschaftlich so nicht gewollt sein können.
Betreuungsunterhalt
In den Entwürfen zur Reform des Unterhaltsrechts ist beabsichtigt, die Regelungen zum nachehelichen Betreuungsunterhalt für den Hauptbetreuenden Elternteil auf alle Eltern auszuweiten (Quelle, hier § 1615n BGB-E).
Auf Basis der obigen Daten ist offensichtlich, dass ein derartiger Einkommenstransfer in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle schon rein statistisch nicht möglich ist.
Wenn nicht erfüllbare gesetzliche Regelungen darüber hinaus noch mit massiven staatlichen Durchgriffsrechten versehen sind, so führt dies mittelbar zu einer Erosion der rechtsstaatlichen Legitimierung.
FSI hat auf diese Problematik bereits früher ausführlich hingewiesen (Quelle).
Der Ausfall von Kindesunterhalt ist ein seit Jahrzehnten bestehendes Problem, dennoch findet eine Untersuchung der Ursachen kaum statt. Insbesondere fehlt eine statistische Analyse der Zahlungsfähigkeit.
Eine solche statistische Untersuchung wäre mit hinreichender Genauigkeit in kurzer Zeit und mit bestehenden Daten möglich. Hierzu müsste der hier vorgestellte Ansatz lediglich auf Nettoeinkommen aus Teilzeitarbeit und Selbständigkeit erweitert und mit fachlicher Expertise vertieft werden. Auch ist fehlende Unterhaltsfähigkeit aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Krankheit zu berücksichtigen.
Pointiert formuliert: Wenn eine rudimentäre Abschätzung der statistischen Leistungsfähigkeit im Rahmen der ehrenamtlichen Arbeit eines gemeinnützigen Vereins möglich ist, warum finden entsprechende Plausibilitätsprüfungen dann nicht seitens namhafter Forschungseinrichtungen oder der zuständigen Ministerien statt? Insbesondere, wenn die Problematik seit Jahrzehnten bekannt ist und zunehmend drängender wird?
Für eine funktionale Reform des Unterhaltsrechts braucht es eine objektive Datenlage und ehrliche Betrachtung der Sachlage. Nur so kann die aktuell bestehende Blockade aus Ideologie und Egoismen überwunden werden. Hierbei ist konzeptionell zwischen Bedarfsentstehung und Bedarfsdeckung zu unterscheiden und es müssen beide Haushalte der Eltern einbezogen werden:
FSI fordert eine zeitnahe und transparente Plausibilitätsanalyse der aktuellen unterhaltsrechtlichen Regelungen auf Basis statistischer Einkommensdaten. Hiervon ausgehend kann dann eine Unterhaltsreform erarbeitet werden, die beide Eltern einbezieht und die Bedarfe von Trennungskindern dauerhaft sichert.
[1] Der Median ist definiert als Mitte einer aufsteigend sortierten Liste. Es ist also jeweils die Hälfte der Einkommen geringer und die andere Hälfte höher als der Median. Der Median ist zur Beurteilung der Unterhaltsfähigkeit besser geeignet als der Mittelwert, da der Mittelwert durch wenige sehr hohe Einkommen verzerrt werden kann.