Endlich öffentlich: Das Gutachten 
 "Gemeinsam getrennt erziehen"

Erstellt vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  (BMFSFJ)


 
 
Das Bundesfamilienministerium hatte vor einiger Zeit den Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beauftragt, das Gutachten "Gemeinsam getrennt Erziehen" zu erstellen. Es werden die familienrechtlichen Fehlanreize offengelegt, die gemeinsame Betreuungsregelungen weiterhin erschweren und entsprechende Empfehlungen gegeben. Die Inhalte widersprechen in weiten Teilen der Handlung und Haltung des Ministeriums in den letzten Jahren.
 
Seit der Übergabe im März 2021 wurde das Gutachten vom Ministerium unter Verschluss gehalten. Erst aufgrund der Anfrage nach Informationsfreiheitsgesetz eines engagierten Mitglieds von FSI sah sich das Ministerium gezwungen, das Gutachten herauszugeben.

Das BMFSFJ veröffentlichte das Gutachten vom März 2021 (endlich) am 27.10.2021 auf seiner Website: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/gemeinsam-getrennt-erziehen-186696

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gemeinsam-getrennt-erziehen

Gemeinsam getrennt erziehen - komplettes Gutachten als PDF

gliederung des gutachtens:
  1. Einleitung 
  2. Rechtliche Rahmenbedingungen einer Trennung mit Kind: Sorgerecht, Umgang, Betreuung und Unterhalt 
  3. Trennungsfamilien im Spiegel der amtlichen Statistik und sozialwissenschaftlicher Befragungen 
  4. Einflussfaktoren auf die Häufigkeit von Umgangskontakten und die Wahl des Betreuungsmodells: nationale und internationale Befunde 
  5. Zum Wohlergehen von Kindern in Trennungsfamilien: Was zählt? 
  6. Unterstützungsangebote vor, während und nach einer Trennung bzw. Scheidung 
  7. Fazit und Empfehlungen 
  8. Literatur 
  9. Anhang
  10. Über den Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen 
ausgangspunkt

Ausgangspunkte des Gutachtens waren die beiden „Zukunftsgespräche Gemeinsam getrennt Erziehen“, angestoßen und umgesetzt durch Bundesfamilienministerin Dr. Katarina Barley (SPD) im Jahr 2017. Das Gutachten lässt einen intensiven und langjährigen Diskurs in der Folge erkennen. 

Bewertung des Gutachtens: 

Das Gutachten spiegelt in weiten Teilen den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs zur Neuregelung des veralteten bundesdeutschen Familienrechts, formuliert akuten Handlungsbedarf, benennt die bestehenden Ungerechtigkeiten und dokumentiert in seinen Empfehlungen konkrete Lösungsvorschläge. 

Es sorgt für Verwunderung, dass die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats so gut wie keinen Eingang in die offizielle Politik der Bundesregierung / des Bundesfamilienministeriums bezüglich einer Reform des Familienrechts finden konnten, obwohl sie in weiten Teilen ein Abbild sowohl der Bedürfnisse als auch der Forderungen aus der Mitte der Zivilgesellschaft darstellen. 

Grundsätzliche Einschätzung: 

Sowohl Teil 1 Einleitung als auch Teil 2 Rechtliche Rahmenbedingungen scheinen von unabhängigen Juristen verfasst worden zu sein. Beide Teile spiegeln und dokumentieren die bestehenden Ungleichbehandlungen der Eltern in Trennungsfamilien im Vergleich zur Zeit vor der Trennung. Sie formulieren klar den Auftrag auf eine grundsätzliche Reform des Familienrechts; einige wenige kosmetische Veränderungen des bestehenden Rechts genügen nicht. 

Anders einige Ausführungen im Mittelteil, die eher im psychosozialen Kontext formuliert sind. So können teilweise die Relativierungen in Kapitel 7 Empfehlungen erklärt werden. 

Begrüßenswert sind die häufig verwendeten Formulierungen im Gutachten: Der Beirat spricht an vielen Stellen von „Trennungsfamilien“ oder „getrennten Eltern“ und nimmt damit beide Elternteile als Teil der Familie wahr. Es spiegelt damit klar die Vorgaben des Grundgesetzes (GG Art. 6) wider. 

Kapitel 9 Anhang präsentiert konkrete Vorschläge von zeitgemäßen Modellen zur Unterhaltsberechnung für getrennte Haushalte. Der grundsätzliche Ansatz zur Abkehr vom Prinzip „eine(r) betreut, eine(r) bezahlt“ ist begrüßenswert, auch wenn im Einzelnen noch Widersprüchlichkeiten und Brüche erkennbar sind. Es wird klar herausgearbeitet, dass ein Kind auch beim zweiten betreuenden Elternteil Bedarfe hat, die das derzeitige Unterhaltsrecht nicht abbildet. (Eine engagierte Mitbetreuung führt nach heutigem Recht zum Modell „zwei betreuen, eine(r) bezahlt“ und führt zwangsläufig zur Ungleichbehandlung der Eltern und zu Benachteiligungen.) 

FSI wird sich dem Kapitel Unterhalt in einer eigenen Stellungnahme zeitnah widmen. 

Zu 1 Einleitung

Zu Beginn legt der Text schlüssig die gesellschaftlichen Veränderungen in den Rollenerwartungen von Eltern dar, was zu veränderten „politischen Bedarfen“ und dem gemeinsamen Sorgerecht als Regelfall führte (S. 4).

Laut Gutachten haben sich

„Rollennormen und das Selbstverständnis von Vätern merklich geändert. Das Ideal einer egalitären Arbeitsteilung… hat auf breiter Ebene Fuß gefasst.“ (S. 5)

Begrüßenswert ist die Tatsache, dass das Gutachten sich vollumfänglich dem Anspruch von Eltern in Trennungssituationen nach „geteilter Betreuung“ in verschiedenen denkbaren Ausführungen widmet und damit den Diskurs weitet.

Das Gutachten diskutiert daher eine Alternative zum bestehenden Residenzmodell, das „sogenannte Doppelresidenzmodell“ (Wechselmodell). Es sei mit

„hohen Erwartungen verbunden, soll es doch in Trennungsfamilien eine bessere Gleichstellung beider Eltern ermöglichen, durch bessere Erwerbsmöglichkeiten das Armutsrisiko für Mütter reduzieren, die Vater-Kind-Beziehung stärken, Konflikte um den Umgang überflüssig machen und damit gleichzeitig auch eine kindgerechte Lösung bieten.“ (S. 5)

Das Gutachten verweist auf Beschlüsse des Deutschen Juristentags vom September 2018, die „eine breite Zustimmung zur rechtlichen Verankerung geteilter Betreuung“ zeigten. Deutlich befürwortet es dessen Forderung, dass

„eine eigene Rechtsgrundlage für die gerichtliche Anordnung geteilter Betreuung zu schaffen“ sei. (S. 5)

Der wissenschaftliche Beirat plädiert für

„eine Stärkung der Elternautonomie durch verbindliche Elternvereinbarungen, die alle Regelungsbereiche – Sorgerecht, Betreuungsarrangement und Unterhalt – gemeinsam in den Blick nehmen.“ (S. 7)

Zu 2 Rechtliche Rahmenbedingungen einer Trennung mit Kind: Sorgerecht, Umgang, Betreuung und Unterhalt

Ausdrücklich verweist der Beirat auf Art. 6 Abs. 2 GG, in dem den Eltern neben dem Recht auf die Pflege und Erziehung des Kindes zugleich

„ein Abwehrrecht gegen unzulässige staatliche Eingriffe in diesem Bereich eingeräumt und garantiert“ werde. (S. 8)

Deutlich heißt es im Text mit Verweis auf das Kindeswohl:

„Das Kindeswohl beinhaltet auch das Recht auf kontinuierliche und stabile Beziehungen zu den Sorgeberechtigten.“ (S. 8)

Nach einem juristischen Diskurs zum Wechselmodell und über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzeslage zur gerichtlichen Anordnung des Wechselmodells stellt das Gutachten zur deutschen Rechtslage klar:

„Grundsätzlich sind beide Elternteile für ihr Kind bzw. ihre Kinder unterhaltspflichtig (§ 1606 Abs. 3 S. 1 BGB)“ (S. 15)

Ausgehend von § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB diskutiert der Beirat die Regelungen im Residenzmodell, in dem „der umgangsberechtigte Elternteil allein barunterhaltspflichtig“ sei. Weiter heißt es:

„Die Unterhaltsregelung des § 1606 BGB stellt somit… auf das Residenzmodell als Standard ab.“ (S. 15)

Im Weitern werden bezüglich einer gerechteren Aufteilung der Barunterhaltslast in Trennungsfamilien Stufenmodell, Prozentmodell und Schwellenmodell vorgestellt.

Zu 3 Amtliche Statistik und sozialwissenschaftliche Befragungen
betreuungsmodelle-rechtsgebiete

Die amtlichen Statistiken sollen „Daten für Politik und Fachpraxis bereithalten“. Das Gutachten stellt jedoch fest, dass die amtliche Statistik in vielen Bereichen „deutlich lückenhaft“ ist. (S. 36)

So liefert die amtliche Statistik u. a. „keine Informationen zum Trennungsverhalten von nichtehelichen Lebensgemeinschaften“. (S. 37)

Bei Umzug werde „in der Regel nur einer der Partner weiterverfolgt“. (S. 37) Im Gutachten heißt es:

„Die Bestimmung geteilter Betreuung anhand amtlicher Daten ist nicht möglich. Insofern sind empirisch fundierte Aussagen zur Verbreitung geteilter Betreuung bzw. des Wechselmodells auf andere Daten angewiesen“. (S. 42)

und:

„Daten zu geteilter Betreuung in Deutschland sind äußerst begrenzt“ (S. 43)

sowie:

„Die verfügbaren Zahlen geben keinen Aufschluss darüber, wie „alleinerziehend“ diejenigen Elternteile sind, die ihre Kinder ohne Partner im Haushalt betreuen.“     (S. 46)

Weiter thematisiert das Gutachten, das bundesdeutsche Melderecht. Sehr viele Rechtsbereiche knüpfen an die Haushaltszugehörigkeit an. Auch wenn beide Eltern betreuen (wollen), sieht das Melderecht vor,

„dass eine Person nur an einem Hauptwohnsitz gemeldet sein kann. Mehrere (gleichrangige) Wohnsitze eines Kindes sind nicht vorgesehen. Dies ist nicht nur von symbolischer Bedeutung, denn zahlreiche gesetzliche Regelungen und finanzielle Anspruchsberechtigungen sind an die (eindeutige) Haushaltszugehörigkeit von Kindern geknüpft. Entsprechend bedeutsam ist die Zuordnung des Kindes zu einem Haushalt.“ (S. 40)

Auch bezüglich der aktuellen Situation beim Kindesunterhalt fehlt es an Daten. So werden verschiedene Studien zum Thema dargestellt, zwischen denen jedoch „erhebliche Unterschiede“ bestehen (S. 49).

Auch wenn sich abzeichnet, dass der Kindesunterhalt trotz der umfassenden rechtlichen Möglichkeiten in vielen Fällen nicht oder nur teilweise gezahlt wird, so sind die Ursachen bis heute unklar, weil diese nicht erfasst werden und die Unterhaltspflichtigen nicht direkt befragt werden (S. 48).

FSI wird diesen Kapiteln eigene Analysen widmen und veröffentlichen.

 

Es ist nicht verwunderlich, dass die verschiedenen Verordnungen und (Sozial-) Gesetze die beiden Elternteile systematisch unterschiedlich behandeln. Tabelle 1 auf Seite 18 stellt diese Ungleichbehandlung der beiden Haushalte vor dem Gesetz anschaulich dar:

Zu 7 Fazit und Empfehlungen

Die Empfehlungen im Gutachten formulieren sehr deutlich:

„Wie die Ausführungen in diesem Gutachten gezeigt haben, besteht weitreichender Reformbedarf, um eine geteilte Betreuung von Kindern durch ihre getrennten Eltern in unserem Rechtssystem zu verankern. Dies betrifft insbesondere die Unterhaltsregelungen, die unterschiedlichen Ausprägungen geteilter Betreuung Rechnung tragen sollten, aber auch weitere Rechtsbereiche, die an die Haushaltszugehörigkeit von Kindern anknüpfen.“ (S. 113; Hervorhebungen FSI)

Daneben „ergeben sich Anforderungen an die Beratungsdienste, die Trennungsfamilien in den unterschiedlichen Phasen begleiten und unterstützen.“ Die Beratungsdienste seien jedoch

„auf belastbare Forschungsbefunde angewiesen, die in Deutschland noch weitestgehend ausstehen.“ (s. 113)

Das Gutachten spricht von einem „markanten Mangel an einschlägiger Trennungs- und Scheidungsforschung in Deutschland“ und empfiehlt „eine breit angelegte Förderlinie, die diese Lücke schließt.“ (S. 113)

Weiter fordert das Gutachten:

„Den Bemühungen um eine zukunftsorientierte Familienpolitik, welche die gemeinsame Elternverantwortung fördert, … steht bislang ein familienrechtliches Regelwerk gegenüber, das die Rollen beider Eltern nach Trennung und Scheidung ungleich verteilt und neben dem hauptbetreuenden einen lediglich umgangsberechtigten Elternteil vorsieht. Der Änderungsbedarf ist offenkundig“. (S. 114; Hervorhebungen FSI)

Bislang liege jedoch aus dem (SPD-geführten) Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) „kein konkreter Entwurf vor.“ (S. 114)

Nach den teilweise wolkigen Ausführungen im Mittelteil des Gutachtens wird der Beirat in Kapitel 7 wieder konkret:

„Das Wechselmodell steht im Einklang mit der Idee, dass die Erziehung und Betreuung von Kindern partnerschaftlich geteilt werden sollte. Es ist nicht nur ein Instrument, um den Vater-Kind-Kontakt nach Trennung und Scheidung zu stärken, sondern kann auch für Kernfamilien wichtige Signale setzen und bereits während der Partnerschaft die Erwerbsorientierung der Mütter und die Betreuungszeiten der Väter erhöhen und so zu einer egalitären Arbeitsteilung führen. Zudem ist es ein wichtiges Instrument zur Arbeitsmarktintegration von Alleinerziehenden.“ (S. 115; Hervorhebungen FSI)

Letztlich müsse es

„darum gehen, die geteilte Betreuung als Option besser im Rechtssystem zu integrieren…“ (S. 117)

Der Beirat spricht sich weiter dafür aus, dass

„die Betreuung und Erziehung der Kinder durch beide Eltern vor und nach einer Trennung und Scheidung Ziel einer zukunftsorientierten Familienpolitik sein sollte.“ (S. 117; Hervorhebungen FSI)

Weitergehende Einschätzungen der Empfehlungen des Gutachtens mit einer inhaltlichen Analyse der einzelnen Kapitel durch FSI folgen.

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